Im KiDS-Kurs machen Kinder und Jugendliche mit Diabetes gemeinsam Ferien – und lernen dabei, selbstständig mit ihrer Krankheit umzugehen.
Auf der kleinen Open-Air-Bühne im Gelände der Jugendherberge Bremsdorfer Mühle tobt der Bär. Mädchen, die ihren Lieblings-Popsong zur Originalmusik ins Mikrofon trällern, Jungs, die frei nach den Komikern von Elsterglanz einen Sketch improvisieren, ein Pantomime mit weiß geschminktem Gesicht, Tänzer, die gekonnt über die Bretter fegen, und eine Gruppe Rad schlagender Artisten, die sich zum Schluss zur Pyramide auf die Schultern steigen. Dazu ein DJ, der den Zuschauern auf den hochsteigenden Rängen mit fetziger Musik einheizt.
Der Wettbewerb um den "Star in der Manege" ist in vollem Gang. Eine Jury soll aus den zwölf dargebotenen "Acts" die besten auswählen. Keine leichte Aufgabe. Zumal besagte Jury auch noch andere Dinge im Auge behalten muss. Zum Beispiel die Uhrzeit. Nach sechs Auftritten schallt es von der Bühne: "Pause! Blutzuckermessen für alle!" 79 Kinder zwischen sechs und 16 Jahren greifen zu ihren Messgeräten, Helfer schwärmen aus, sehen nach dem Rechten und protokollieren die Werte. Danach gibt es noch eine Runde Obst, bevor die Show weitergeht.
Für Außenstehende ein ungewohnter Programmpunkt – für die Teilnehmer des KiDS-Kurses im brandenburgischen Bremsdorf der Alltag. Dr. Karsten Milek und seine Frau Susanne, die das Ferienlager für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes veranstalten, machen es möglich: Spiel und Spaß sind während der zwei Wochen im Camp genauso garantiert wie ärztliche Betreuung und die Vermittlung des nötigen Wissens zum Umgang mit der Krankheit.
Ein Dauerbrenner seit 20 Jahren
KiDS-Kurs steht für Kinder-Diabetes-Schulungs- und Behandlungskurs. Als sogenannte "Vorsorgekuren" gab es ähnliche Camps schon zu DDR-Zeiten. Regine Hildebrandt, die früh verstorbene Gesundheitsministerin von Brandenburg, setzte sich dafür ein, diese Kuren auch nach der Wende fortzuführen. Diabetologe Milek, damals Arzt an einer Ostberliner Diabetesklinik und junger Familienvater, ließ sich von ihrem Engagement überzeugen und organisiert die Kurse seitdem. Jeden Sommer, heuer schon zum 20. Mal – und immer unter einem anderen Motto. Dieses Jahr ist der Zirkus dran. Auf dem Gelände wimmelt es von halbwüchsigen Artisten, Tänzerinnen, Jongleuren, Zauberinnen, Dompteuren und Akrobatinnen: So heißen die verschiedenen Gruppen, in die Jungen und Mädchen je nach Alter und Geschlecht eingeteilt sind.
Inzwischen hat das Zirkusvolk wieder seine Plätze eingenommen. In der "Manege" läuft der Höhepunkt des Abends: der elfjährige Lukas als Lady Gaga, mit neonbuntem Tüll über dem geschminkten Gesicht und im kurzen Röckchen. Frenetischer Beifall und lautes Gejohle begleiten seinen Auftritt. Auch die Jury zeigt sich begeistert. Lukas kommt unter die Besten, aus denen bei einer späteren Show die Sieger gekürt werden. Für heute heißt es Feierabend – natürlich nicht ohne eine letzte Disco-Einlage für alle auf der Bühne. Um halb zehn ist auch für aufgekratzte Zauberinnen, Jongleure und sonstige Zirkusaspiranten der Tag zu Ende.
Abendsitzungen für das Betreuer-Team
Nicht so für ihre Betreuer. Um halb elf, wenn in den Zimmern Ruhe herrscht, treffen sie sich, um die Ereignisse der vergangenen 24 Stunden zu besprechen, Probleme auf den Tisch zu bringen und den Ablauf des nächsten Tages vorzubereiten. Zum Team gehören neben den Mileks weitere Diabetologen, mindestens drei bis vier Helfer pro Kindergruppe, meist Krankenpfleger oder -schwestern in der Ausbildung, dazu mehrere Diabetesberaterinnen und Diätassistentinnen.
Am nächsten Morgen steht die augenärztliche Untersuchung an. "Damit die Kinder wahrnehmen: Auch der Augenarzt spielt eine Rolle in meinem Leben", sagt Karsten Milek. Dazu müssen die Helfer den jungen Patienten Pupillen-erweiternde Tropfen verabreichen – bei 79 Kindern ein erheblicher Aufwand. Gleichzeitig soll das Lagergeschehen drum herum möglichst wenig beeinträchtigt ablaufen.
Freizeitprogramm mit Hintersinn
Kein Problem: Dr. Susanne Milek, Medizinpädagogin und Gesundheitswissenschaftlerin, hat alles von langer Hand vorbereitet. Für die beiden Wochen gibt es einen festen Plan, der außer den medizinischen Terminen auch viele attraktive Extras umfasst: Volleyball- und Tischtennisturniere, Baden am nahen See, Hochseilklettern, Lagerfeuer- und Kinoabende, Fußball mit dem Jugendtorwart von Union Berlin, ein Wurftraining mit Nachwuchsspielern des Mitteldeutschen Basketballclubs ... und als Krönung einen Busausflug in ein Erlebnisbad mit Pinguinen. Das macht den Kindern nicht nur Spaß. "Sie merken auch, was sie mit Diabetes alles leisten können", sagt Susanne Milek. "Das stärkt ihr Selbstvertrauen." Und dass es ein Torwart mit Typ 1 bis in die Bundesliga geschafft hat, bringt zusätzliche Motivation.
Neben dem Unterhaltungsprogramm kommt das Lernen nicht zu kurz. "Jede Gruppe hat täglich eine Stunde Schulung", erklärt Susanne Milek. "Und zwar zu den verschiedensten Themen: Das reicht von Essen und Zahnpflege über Spritztechnik und Insulinanpassung bis hin zum Verhalten bei Stoffwechselentgleisungen." Wissenswertes zu Diabetes und Sport erfahren die Kinder der Praxisnähe wegen gleich auf dem Volleyballplatz. Mit den Jugendlichen wird über Diabetes und Liebe diskutiert.
Wenig Verständnis von Mitschülern
Diabetesbedingte Probleme in der Schule oder mit den Freunden kommen ebenfalls zur Sprache. Von den Lehrern fühlen sich die Kinder in der Regel gut betreut, doch bei den Mitschülern lässt das Verständnis öfters zu wünschen übrig. Sebastian (10) muss sich beispielsweise mit "Na, du dummer Diabetiker?" anreden lassen. Wenn Florian (10) in den Unterzucker gerutscht ist und in der Pause nicht mitspielen kann, heißt es ungeduldig: "Kannst du den Sch…diabetes nicht wegmachen?" Und Marvin (10) erzählt, dass sein "größter Feind" ständig versucht, ihm das Blutzuckermessgerät wegzunehmen und runterzuwerfen. Viele sind an ihrer Schule die einzigen, die Diabetes haben. "Als ich klein war, habe ich immer gedacht, ich bin der einzige Diabetiker auf der Welt", seufzt Florian – und stößt damit auf lebhafte Zustimmung in der Gruppe.
Umso wichtiger, wenn die Kinder im KiDS-Kurs hören, dass sie mit ihren Schwierigkeiten nicht allein sind. Auch Tipps, wie man die ärgsten Widersacher zur Räson bringen könnte, werden ausgetauscht. "Was die Kinder am meisten stört", sagt Karsten Milek, "ist nicht das Piksen, nicht der Stoffwechsel, sondern dass sie anders als die anderen sind. Viele schämen sich vor ihren Freunden – das wissen wir aus unseren Fragebögen. Deshalb ist das hier so toll. Bei uns sind alle gleich. Da haben sie dieses Problem mal nicht. Dass einer guckt: ‚Was machst'n da? Musste spritzen? Bist wohl'n Fixer, ey?’" Und wer von Gleichgesinnten im Kurs den Rücken gestärkt bekommt, ergänzt Susanne Milek, kann sich nachher leichter wieder in seine "Normalwelt" integrieren.
Das große Ziel: Mehr Eigenständigkeit
So betrachtet, sind die zwei Wochen in der Bremsdorfer Mühle schon eine Schulung an sich. Übrigens auch in praktischer Hinsicht: Die Kinder sollen lernen, möglichst früh eigenständig mit ihrem Diabetes umzugehen. Das beginnt schon mit dem ersten Blutzuckermessen nach dem Aufstehen. Gruppenhelfer notieren die Werte und beraten mit jedem Kind, was es zum Frühstück essen möchte, wie viele BE dabei zusammenkommen und wie viel Kurzzeitinsulin es dafür spritzen oder an der Insulinpumpe abrufen muss. Die Kinder entscheiden mit und verabreichen sich dann ihr Insulin unter Kontrolle selbst.
An der Theke im Speisesaal stellt sich jedes Kind die besprochenen BE selbst zusammen – und erhält von den Diätassistentinnen, die das Essen ausgeben, gleich die Bestätigung, ob seine Wahl stimmt oder nicht. Ein Lernprozess, der bei jeder Mahlzeit abläuft, beim Sport, überhaupt nach jedem gemessenen Blutzuckerwert. "Die Kinder werden immer zuerst gefragt, was sie selbst tun würden", sagt Susanne Milek. "So erfahren sie, dass sie ihren Diabetes tatsächlich selbst managen können. Gerade für die Jüngeren bedeutet das oft einen Riesenschritt."
Blutzuckerwerte, gespritzte Insulinarten und -mengen und sonstige für den Diabetes wichtige Informationen werden für jedes Kind in eine Patientenakte eingetragen. So behalten Ärzte und Betreuer den Überblick und wissen, auf welche Besonderheiten sie bei wem achten müssen. Was die medizinische Überwachung angeht, laufen alle Fäden im "MedPunkt" zusammen. Hier befindet sich die mobile Diabetesklinik, die Karsten Milek jedes Jahr für die beiden Ferienwochen einrichtet. Und hier sitzen zu jeder Tages- und Nachtzeit zwei Helfer, die die Kinder über Walkie-Talkies in den vier Wohnhäusern alarmieren können. Sie rücken mit Traubenzucker oder Apfelsaft gegen Unterzuckerungen aus, versorgen aufgeschlagene Knie mit Pflastern oder setzen sich bei Kummer zum Trösten ans Bett.
Immer wieder ein Problem: Heimweh
Ein ausgeklügeltes Versorgungssystem, das eingreift, wenn nötig, und den Kindern doch so viel Freiraum wie möglich lässt. Eltern brauchen sich also keine Gedanken zu machen, wenn sie ihr Kind im KiDS-Kurs abliefern. Trotzdem fällt es ihnen häufig schwer, die Verantwortung einfach abzugeben, sagt Pädagogin Milek. Viele Kinder machen zum ersten Mal weit weg von daheim Ferien mit anderen, die sie gar nicht kennen. Manche leiden die erste Zeit sehr unter Heimweh.
So wie die zehnjährige Paula aus Nordrhein-Westfalen, die anfangs bei jedem Telefonat nach Hause weinte und nur noch weg wollte. "Ich habe den Eltern zugeredet, ihr Kind bei uns zu lassen", berichtet Susanne Milek, "weil ich Paula zutraute, es zu schaffen. Und sie hat auch ganz allein einen Weg gefunden, über den Schmerz hinwegzukommen." Paula nickt. "Ich fühle mich inzwischen wohl hier", sagt sie stolz. " Meine Eltern rufe ich jetzt nur noch alle zwei Tage an. Ich weine auch nicht mehr am Telefon und kann ihnen tolle Sachen erzählen. Zum Beispiel dass alle sehr nett zu mir sind und dass ich Freundinnen gefunden habe."
Vielen Eltern ist daran gelegen, dass ihr Kind in Sachen Diabetes selbstständiger und damit weniger abhängig von ihnen wird. "Das betrifft vor allem die Kleineren", sagt Susanne Milek. Ältere Kinder wiederum nehmen am Kurs teil, weil sie endlich mal was allein unternehmen wollen und nicht möchten, dass die Mama wieder mit zur nächsten Klassenfahrt kommt. Die Bandbreite von Sorgen und Wünschen ist groß – und der KiDS-Kurs bietet allen Beteiligten eine Chance. Nicht von ungefähr sind etwa 40 Prozent der Kinder schon mehrmals im Camp gewesen. Wer als Kind teilnimmt, kommt häufig später als Gruppenhelfer wieder.
Der Ärger mit den Krankenkassen
Und die Kosten? 175 Euro pro Kind für Unterkunft und Verpflegung zahlen die Eltern, für medizinische Leistungen und Schulungen die Krankenkassen. Wenn sie den Antrag nicht ablehnen. "Leider passiert das in rund der Hälfte der Fälle", bedauert Diabetologe Milek. Manche Kassen stehen dem KiDS-Kurs-Konzept aufgeschlossen gegenüber, andere reagieren sehr zurückhaltend – obwohl die Mileks sogar mit Studienergebnissen aufwarten können, die den nachhaltigen Erfolg des Kurses belegen.
Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes, die in einem Disease-Management-Programm eingeschrieben sind, haben zwar Anspruch auf Schulungen. Ob die aber kindgerecht und unter Freizeitbedingungen im KiDS-Kurs stattfinden können oder als Reha-Maßnahme in einer Klinik, bleibt eine Einzelfallentscheidung der zuständigen Krankenkasse. "Solche Reha-Maßnahmen laufen noch dazu meist während der Schulzeit", sagt Susanne Milek. "Dadurch fehlt ein Kind vier bis sechs Wochen im Unterricht und hat danach automatisch wieder eine Außenseiterrolle in seiner Klasse." Um dem gegenzusteuern, veranstalten die Mileks ihr Camp immer in den Ferien. Die Auseinandersetzung mit den Krankenkassen zieht sich oft über Monate und kostet viel Zeit und Kraft.
So fragt man sich, was Karsten und Susanne Milek bewegt, trotzdem weiterzumachen, und das seit 20 Jahren. Auf den Sommerurlaub mit der Familie verzichten sie, weil Diabetologe Milek seine Praxis nicht länger als zwei Wochen schließen kann. Das ganze Jahr über laufen die Vorbereitungen für den Kurs und die Verhandlungen mit den Kassen, danach müssen die Patientenakten ausgewertet, Berichte an die überweisenden Ärzte geschrieben, Gespräche mit den Eltern geführt werden.
Doch was die Motivation angeht, kommen bei beiden keine Zweifel auf. "Die Kinder geben uns ganz viel zurück", sagt Karsten Milek. "Wenn ich in den Schulungen von Problemen höre, weiß ich: Da können wir helfen. Und da müssen wir helfen", fügt Susanne Milek hinzu. "Außerdem haben wir immer ein tolles Betreuerteam. Zusammen macht es einfach Spaß."
"Eine Woche vorher sagen wir alle: Warum tun wir uns das an?", erzählt Karsten Milek und grinst. "Und am Ende heißt es: Ja, nächstes Jahr wieder." Die Jugendherberge Bremsdorfer Mühle ist bereits von 21. Juli bis 4. August 2012 gebucht.
Interessierte Eltern sollten ihre Kinder so bald wie möglich anmelden:
Im Internet: www.kids-kurs.info
Per Telefon: 034441/990299.
Artikel erschienen im diabetes-ratgeber.net
Dr. Sabine Haaß / Diabetes Ratgeber; 05.10.2011
W&B/Kathrin Harms